Blau

Im Jahr nachdem mein Onkel ertrank, machte mein Vater seinen Segelschein.
Niemand sprach ihn je darauf an, dass sein Bruder in der morgendlichen Kühle eines Maimittwochs beim Baden im See vermutlich einen Herzinfarkt erlitten hatte und kein noch so fähiger Segler ihn hätte retten können. Fast eine Woche hatte Vater nur im Garten verbracht. Die Arme verschränkt. Der Mund verschwunden. In eine Weite blickend, die es in dem Parzellengrün unserer Reihenhaussiedlung nicht gab. Wenn der Schlaf ihn überkam, legte er sich auf die Hollywoodschaukel. Die Befestigungshaken ins blau lackierte Gestell geschoben. Die Möglichkeit von Bewegung genommen.
In der wolkenlosen Hitze dieser Tage war es, als stünde selbst der Himmel still.
Sechs Tage nach der Nachricht hatte er das Haus wieder betreten. Hatte sich rasiert. Geduscht. Meine Mutter geküsst. Er ließ die Fortsetzung unseres Lebens zu.
Er, Segelschein. Ich, Abitur. Er, Bootskauf. Ich Auszug in die Stadt.
Seither überquert er jeden Mittwoch den kleinen See und schickt mir ein Bild von sich.
Schwarzes Cappy, Sonnenbrille. Mund ohne Spannung. Gehisste Deutschlandflagge.
Ich antworte mit Bildern vom WG-Balkon, vom Schreibtisch, der Unibibliothek.
Vermeide es, mein Gesicht zu zeigen, die längeren Haare, das Nasenpiercing.
Mein Vater und ich kommunizieren nur in Bildern. Bunt und regungslos.
Meine Mutter verwaltet die Wörter. Samstägliche Anrufe. Karten. SMS. Fragen nach dem Studium. Nach Freundschaften. Und immer: Wann kommst du wieder zu Besuch?
Sie mache sich Sorgen. Dauernd lese sie von Schlägereien, Drogen, Autorennen und Mord.
Bei mir in der Stadt. Sie hört nicht meine Sorgen: Die Stimmung zu Hause. Im Land. Außerhalb der Stadt.
Ach, Junge.
Dann wieder Floskeln. Eine Woche Stille. Mittwochs ein Bild.

Rauschen. Ein stummes Meer schreit flackernd seine Bläue in mein WG-Zimmer. Ich liege bewegungslos. So hat es mir Vater eingetrichtert. Ist man auf offener See in Not, soll man so ruhig es geht im Wasser bleiben. Nicht strampeln. Energie sparen. Auf Rettung warten.

Ich denke an meinen Schwimmunterricht. Der stechende Chlorgeruch. Die Enge der Badekappe um meinen Kopf. Die Panik, die mich überkam, als ich mich erstmals vom Beckenrand lösen sollte. Die Überraschung als deutlich wurde, dass ich es konnte. Dass ich sogar ein ganz passabler Schwimmer war. Das Lächeln meiner Mutter von der Seitenbank. Stolz. Mein Körper im Wasser des Beckens. Ein Fremdkörper, der sich zu behaupten gelernt hatte. Der verstanden hatte, wie er sich bewegen musste, um nicht unterzugehen. Kontrolle.
Einmal tauchte ich zu tief. Wasser drang in meine Nase. Meinen Mund. Herzrasen. Strampeln. Das Durchbrechen der Wasseroberfläche wie eine Wiedergeburt.
Durchsichtig hatte ich mich in die Filteranlage erbrochen. Ein Brennen auf meiner Haut, wie ein Mantel aus Sommerdisteln. Man hatte mich aus dem Wasser gezogen und nur der Schreck war zurückgeblieben. Bald schon aufgelöst in der unsichtbaren Chemie.
Das üben wir nochmal.
Der Schwimmlehrer hatte mich sacht an der Schulter gerüttelt, nachdem ich mich wieder aufgerichtet hatte. Erleichtert. Die Luft kehrte zurück. Doch noch Wochen danach spürte ich meine Zunge kaum. Auf ihr nur reinliche, chemische Härte.
Die See, so wusste ich damals schon, hätte anders geschmeckt. Nach zügelloser Kraft und erbarmungslosem Frieden. Nach Tang und Kiemen. Nach verborgenem Leben. Nach Tod.

Noch immer bin ich regungslos. Ich lecke über meine Lippen. Beinahe hoffend, ich fände salzige Perlen auf ihnen. Doch sie sind trocken und hart. Zwei verkümmerte Striche. Erbe meines Vaters.
Ist auch er ein Fremdkörper in diesem schreienden Meer? Nimmt er es überhaupt wahr?
Ich richte mich auf. Mein Körper ist ein steifes Gestell. Meine Finger können die Fernbedienung kaum umfassen und lassen sie wieder auf die Polster gleiten. Der Ton bleibt abgestellt. Auf dem Bildschirm zeigen professionell unbeteiligte Minen in Anzügen auf die immer gleichen Statistiken. Stumme Wörter, mit denen sie Balken, Sitzverteilungen und Wählerwanderungen erklären. Die Ergebnisse der letzten Wahl, den heutigen gegenüberstellen. Die Wörter hatte ich nicht lange ertragen können, es aber auch nicht gewagt, abzuschalten.
Blau. Immer mehr Blau, das alle anderen Farben verdrängt. Ertränkt.
Ich sehe den Stummfilm eines Interviews mit den Siegern des Abends. Blondes, kurzgeschorenes Grinsen. Zähne, die alles reißen wollen, ohne zu kauen.
Die alles verschlingen, alles vernichten wollen.
Ich schließe meine Augen, um dem Anblick zu entfliehen. Meine Gedanken zu sortieren. Doch das bläuliche Flackern sickert durch meine Lider. Durchspült meine Augen bis sie brennen.
Auf dem Bildschirm eine Karte.
Die Stadt, in der ich schwimmen lernte, in der meine Eltern leben. Blau.
Der Landkreis. Blau.
Das Bundesland. Blau.
Seine vier Geschwister. Blau.
Meine Heimat. Blau.
Überspült von einer Sintflut. Ich, Gestrandeter in der Stadt. Atemlos.
Ich stehe auf. Benommen. Meine Zunge liegt wie taub in meinem Mund.
Als können sie die Worte nicht tragen, die ich ohnehin nicht finden kann. Zum Glück bin ich allein. Ich gehe ein paar Schritte durch den Raum. Ziellos. Wieder wende ich meinen Kopf zum Fernseher. Das Blau ruht für einen Moment. Man sieht einen Außenreporter, der Menschen aus der blauen Hochburg zur Rede stellt. Eine Frau. Rothaarig. Mitte 50. Wütend. Zufrieden. Ich kann die immer gleichen Fragen in ihrem Gesicht ablesen.
Wie konnte das passieren?
Was muss sich verändern?
Und zwischen den Zeilen ____Warum sind hier alle Nazis?_____
Die Interviewte gibt knapp Antwort. Sie sieht nicht in die Kamera. Sie sieht den Reporter an. Direkt. Ich kann ihr Gesicht nicht mehr deuten. Ich will durch den Bildschirm kriechen und sie schütteln. Ich will sie eine Idiotin nennen. Ich will sie hassen!
Doch sie erinnert mich an meine Mutter, an meine Tante, an meine Familie, an mich.
Der Versuch Hass aufzubringen erstickt an meiner Herkunft.
Hier in der Stadt ist jeder von nirgends. Niemand fragt und wenn ich es doch mal jemandem erzähle, werde ich meist gelobt.
Krass, hört man gar nicht.
Ein Orden.
Eine Ohrfeige!
Habe ich mich einmal offenbart, werde ich zum Sprecher. Jemand, der es rausgeschafft hat und nun berichten soll. Vor allem aber erklären. Mein Gegenüber wird zum Außenreporter und ich zu der Rothaarigen. Was habe ich mit ihr gemein? Was verstehe ich von ihrem Leben? Nichts. Einiges. Vieles.
Ich gehe zur Fernbedienung. Will hören, was sie zu sagen hat. Doch als ich danach greife, ist die Frau verschwunden, ohne dass mich eines ihrer Worte erreicht. Wieder Diagramme. Wieder Blau. Ich schalte aus.
Für einen Moment ist es im Zimmer so dunkel, als wäre es untergetaucht. Ein Druck liegt auf meinen Ohren.
Ich muss an meinen Onkel denken. Wie schnell stirbt man nach einem Herzinfarkt? Hatte er das Seewasser geschmeckt, als es ungehindert in seinen Körper drang? Sein moosiges Unschuldsgebaren. Seine Fäule.
Hatte er noch sehen können, wie das Licht der Welt schwand? Wie der letzte Rest Atemluft aus seinem Körper drang und zu den Lebenden aufstieg? Hatte er versucht, sie zu greifen oder hatte er sie ziehen lassen? Seine luftgewordene Seele.
Meine rauen Lippen brennen. Ich schmecke Salz. Ich habe meinen Onkel nicht besonders gemocht. Er war meinem Vater ähnlich. Ruhig. Beinahe stumm.
Ich liebe meinen Vater. Er ist mein Vater. Vielleicht habe ich meinen Onkel also einfach nicht verstanden. Mir keine Mühe gegeben, ihn zu verstehen. Ehrlicherweise nicht einmal darüber nachgedacht, ihn verstehen zu wollen. Es war leichter, sein verschlossene Art befremdlich zu finden. Nun ist er tot.
Verstehe ich meinen Vater?

Ein Vibrieren in der Dunkelheit. Ein schwacher Lichtschein. Milch im Nebel.
Ich greife nach meinem Smartphone. Die Miniatur meines Vaters, gebannt in einem kleinen Kreis, kündigt eine Nachricht an. Es ist Sonntag. Bis zum Mittwochsbild sind noch über drei Tage Zeit. Ich reibe mir die Tränen aus dem Gesicht, als ob mein Vater mich sehen könnte, sobald ich die Nachricht öffne. Dann entsperre ich das Telefon und lese.

Vati: Alles gut?

Ich scrolle in unserem Nachrichtenverlauf nach oben. Suchend. Noch nie hat mein Vater mir einfach so geschrieben. Unbebildert. Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Warum meldet er sich ausgerechnet heute? Kurz überlege ich, den Fernseher wieder anzustellen und ihm ein Foto von den nicht abebbenden Analysen zu schicken.

Ich: Geht so.

Vati: Mutti fragt, ob du nächstes Wochenende vorbeikommen willst?

Unwillkürlich schüttele ich den Kopf. Erst gestern habe ich mit meiner Mutter telefoniert. Sie aufgefordert zur Wahl zu gehen und dann auf Durchzug geschaltet, um mir nicht merken zu müssen, ob sie irgendeine Ausrede erfinden oder einfach ja sagen würde.

Vati: Können auch ne Runde mit dem Boot fahren.

Das ist neu. Soweit ich weiß, hat er bislang noch niemanden mit auf sein Boot genommen. Das wöchentliche Foto, der einzige Beweis, dass es wirklich existiert. Mir wird ein bisschen schlecht. Schön und gut, dass mein Vater plötzlich entdeckt zu haben scheint, dass das Smartphone mehr ist als ein interaktiver Fotoapparat. Aber der Zeitpunkt? Mein Gesicht wird heiß. Wie ignorant ist er eigentlich? Die Gesellschaft steht an einem Abgrund und er will eine Bootstour machen, als wäre nichts?

Ich: Weiß noch nicht.

Mehr geht nicht. Mehr würde er ohnehin nicht verstehen.

Vati: Mutti freut sich sicher.

Ja, ich würde mich auch freuen, wenn wir alle mal vernünftig miteinander reden könnten, anstatt uns permanent Worthülsen hin und her zu schicken.

Vati: Überleg’s dir.

Ist schon überlegt und entschieden.

Vati: Schönen Abend noch.

Etwas platzt. Geräuschlos. Meine Geduld kann nicht mehr.

Ich: Wie soll das bitte noch ein schöner Abend werden?

Vati: Alles gut?

Der Raum, gerade noch blau geflutet, wird rot. Jeder Buchstabe, den ich zur Antwort tippe, ein Faustschlag.

Ich: Schaut ihr Nachrichten?

Vati: Ja. Mutti hat sich schon Sorgen um dich gemacht.

Ich: Um mich? Ich glaube wir leben alle hier.

Das Telefon klingelt. Was soll das? Ich gehe nicht ran.

Ich: Will jetzt nicht telefonieren.

Vati: ok.

Ich bin zu geschafft, um meine Wut weiter zu füttern. Sie verpufft. Trage ich die Wut in meiner Brust, sehe ich die Einfalt und den Egoismus der Menschen klar vor mir. Versiegt sie, erkenne ich, dass ich durch Feuer gesehen und darin Teufel erkannt habe. Erlischt es, sehe ich, dass es nur Menschen sind. Kann ich mir wieder meinen Vater vorstellen. Dort in unserem Haus. Um Worte ringend, die verborgen in seiner Schweigsamkeit liegen. Worte für mich.

Ich: Tut mir leid.

Vati: Du kannst immer vorbeikommen. Das Boot läuft nicht weg. Hab alles da. Zweite Angelroute. Rettungsweste. Mückenspray.

Ich: Du trägst aber nie eine.

Vati: Was?

Ich: Rettungsweste. Auf deinen Bildern hast du keine an.

Vati: Kapitänsprivileg. Du trägst trotzdem eine. Ich lasse dich doch nicht untergehen.

Ich halte kurz inne, als ich den letzten Satz noch einmal lese.

Ich: Einverstanden. Gute Nacht.

Eine Woche später sitze ich in der Küche meiner Eltern.
Das Nasenpiercing habe ich in der WG gelassen. Falls mein Vater das kleine Loch bemerkt hatte, ließ er es genauso unkommentiert wie meine Frisur. Er hatte mich umarmt. Kurz, aber fest. Meine Mutter tänzelte um mich herum. Strahlend. Küsschen verteilend.
„So“, hatte mein Vater irgendwann gesagt und wir waren aufgebrochen. Auf dem Weg zum See hingen an jeder zweiten Laterne noch die schreienden, blauen Plakate. Ich hatte den Blick abgewendet und auf das Armaturenbrett gestarrt. Vati schaltete das Radio ein.

Jetzt auf dem Boot ist mir, als würde ich das erste Mal seit einer Woche wieder atmen können. Die Rettungsweste, ein Tarnmantel vor der Welt. Sie kümmert sich, wenn etwas passiert. Ich habe alle Verantwortung abgegeben. Mein Vater steuert das Boot. Stumm. Sicher. Die Sonnen auf meinem Gesicht. Unwillkürlich lächle ich.
„Hier ist es passiert.“
Mein Vater deutet mit der rechten Hand auf eine Stelle im Wasser, die der Schatten einer Wolke dunkel färbt. Er setzt den Anker, nimmt zwei Limonaden aus dem Rucksack und zündet sich eine Zigarette an. Dann stellt er sich neben mich an die Reling. Das Schaukeln des Bootes lässt unsere Spiegelungen tänzeln. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Nehme die Limo und trinke einen Schluck. Der Zigarettenrauch füllt die Stille aus. Die Wolken ziehen weiter.
„Machst du hier immer deine Fotos?“, frage ich schließlich, als ich mich setze.
Vaters müder Mund versucht ein Lächeln. „Albern. Ich weiß.“
Ich sehe ihn an. „Überhaupt nicht.“
Langsam bläst mein Vater den letzten Rauch der Zigarette in den Himmel. Ich schaue in meine Flasche. Die Limonade darin. Ein abgefüllter Sonnenstrahl. Und wenn die Flasche leer ist?
„Ich habe Angst, Vati.“
Er setzt sich neben mich. „Ich weiß.“
„Manchmal habe ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Als würde ich hier gar nicht dazugehören. Ich verstehe das alles nicht. Diese Zahlen.“ Ich weiß nicht mehr zu sagen. Schweige.
Mein Vater zündet sich erneut eine Zigarette an. Das Knistern des verbrennenden Tabaks schmirgelt den See glatt.
„Manche Menschen sind wütend“, sagt mein Vater schließlich.
„Ach, komm!“, stöhne ich.
Sofort spüre ich meinen Blick rot werden. Starre ihn an. Er legt mir die Hand aufs Bein. Wendet sich zu mir. In seiner Sonnenbrille spiegelt sich mein Gesicht. Ich erschrecke mich. Versuche meine Züge zu entspannen.
„Viele Leute strampeln. Können nicht ruhig bleiben. Haben Angst zu ertrinken. Die warten auf Rettung und vergessen, dass sie selbst auch schwimmen können. Auch schwimmen dürfen“, sagt er ruhig.
Er nimmt die Hand von meinem Bein. Blick wieder aufs Wasser gerichtet.
„Mehr weiß ich auch nicht.“
Ich trinke den Rest meiner Limonade. Die Sonne scheint noch immer. Spiegelt sich im Glas. Ich stehe auf. Küsse meinen Vater aufs Cappy und springe in den See. Eine kühle Haut legt sich auf die Hitze meines Körpers. Für einen Moment bin ich nichts. Nur Temperatur. Die Weste zieht mich nach oben wie eine große Hand. Ich drehe mich auf den Rücken. Sehe die Wolken. Die Sonne. Meinen Vater lächeln. Ich strecke die Arme. Ziehe sie an mich. Spüre den Widerstand, dann das Gleiten. Die Welt in Bewegung gesetzt.
Der Himmel, blau. So herrlich blau.
Ich erinnere mich, dass ich schwimmen kann.
Schwimmen darf.
Schwimmen muss.

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Takt