Takt

Es war fünf vor zwölf.
Er wusste, dass die Standuhr in der Diele gleich schlagen und ihn Irmtraud in den Pausen dazwischen zu Mittag rufen würde. Er lächelte und sah zur Tür hin.
60 Jahre Ehe. Sie waren ein Uhrwerk.
Ein Blick auf seine Armbanduhr. Noch drei Minuten bis auch die Marktkirche alle an die vereinbarte Ordnung erinnern würde. Es blieb noch ein wenig Zeit. Mit dem Rechen schob er die herabgefallenen Blätter des Apfelbaumes zusammen. Ein altes Ding, das kaum noch trug und nur viel Arbeit machte. Irmtraud hatte ihn vor Jahren gebeten, den Baum zu schlagen und Platz für eine Hollywoodschaukel zu machen, doch er hatte es nicht übers Herz gebracht. Ein paar Äpfel hingen ja noch an ihm und auch wenn sie säuerlich waren, ließ sich doch ein anständiges Kompott daraus kochen, das sie im Winter verspeisten und das die Enkel liebten.
In der Ferne ein erster Glockenschlag. Er schüttelte den Kopf. Die Protestanten hatten es immer besonders eilig und wollten der Zeit ein Schnippchen schlagen. Auf seiner Uhr war es noch nicht zwölf und auch die Marktkirche ruhte noch.
Konfessionen waren ihm einerlei, doch Ordnung musste sein. Die Zeit war die Zeit und zwar exakt. Daran gab es nichts herumzudisuktieren. Man musste sie im Blick behalten. Das ja.
Schon immer war das seine Aufgabe gewesen. Geburtstage. Urlaubsplanung. Das Wecken der Kinder für die Schule. Das Herausstellen der Mülltonne. Zuletzt meist Arzttermine. Irmtraud tat all dies selbstverständlich. Doch er war es, der den Überblick hatte und stets daran erinnerte.
Äußere Ordnung schafft innere Ordnung. Davon war er überzeugt.
Und so war es auch keine große Umstellung gewesen, als Irmtraud im letzten Jahr damit begann, ein paar Termine zu vergessen. Er erinnerte sie nur noch öfter daran und dann ging sie auch, war pünktlich vor Ort oder rief zu gegebener Zeit an der richtigen Stelle an.
Ein Uhrwerk nach wie vor.
Die Blätter waren auf einem Haufen.
Er lehnte den Rechen an den Baum. Fühlte kurz die vertraute Rinde.
12:01 Uhr! Unfassbar.
Er schnaubte und sah über die Nachbargärten hin zur unsichtbaren Marktkirche. Stumm.
Er verstand so etwas nicht. Diese Art Unzuverlässigkeit.
Würde er Kirchensteuern zahlen, wäre er erbost, das wusste er. So war er schlicht verärgert. Auf nichts war Verlass. Er griff an sein Ohr und drehte das Rädchen seines Hörgerätes nach oben. Nun hörte er auch die letzten Schläge der Standuhr aus der Diele.
Er ging zum Haus. Bürstete seine Gummistiefel ab, bevor er den Flur betrat. Im Gästebad wusch er sich die großen Hände. Hände für den Bau, doch er war Beamter gewesen.
Er hing die Jacke an die Garderobe und roch nichts.
Er verharrte in der ohnehin aus dem Takt geratenen Routine. Atmete tief ein.
Nichts.
Keine Zwiebeln. Kein Bratenduft.
Es atmete nur das Haus.
Die Gewohnheit trug seine Füße in die Küche. In einer Pfanne auf dem Herd lag nackt der Braten. Die Küchenuhr verriet die Zeit. Fünf nach zwölf.
Irmtraud saß am Küchentisch. Wie immer leicht gebeugt. Das Schälmesser in der Hand.
Die gelbe Schüssel mit den Zwiebeln vor ihr.
Er wusste, dass sie tot war.
Behutsam nahm er ihr das Messer aus der Hand. Wollte nicht, dass sie sich schnitt.
Schloss ihre Augen und stellte die Schüssel mit den Zwiebeln in die Speisekammer.
12:27 Uhr kam die Polizei. 12:29 Uhr der Rettungswagen.
Beinahe musste er auflachen. So herum hätte es auch keinen Sinn ergeben.
Was für eine Zeit. Nein, es könne nun niemand vorbeikommen. Die Kinder lebten in Berlin und Dresden und arbeiteten jetzt. Nein, er brauche nun niemanden und wolle allein sein.
13:14 Uhr verließ Irmtraud zum letzten Mal das Haus.
Im Kalender neben dem Kühlschrank waren für diese Woche ein Friseurtermin und Aquagymnastik vermerkt. Er rief an und sagte höflich ab. Er warf den Braten in den Müll, spülte Pfanne und Schälmesser, trocknete sie und räumte sie an Ort und Stelle.
In zwei Tagen würde die Tonne abgeholt werden. Er nahm den Müllbeutel aus dem Eimer und stellte ihn vor die Tür zum Garten. Dann ging er durchs Haus. Zufrieden sah er, dass Irmtraud das Bett noch gemacht hatte. Die Kissen aufgeschlagen. Die Schlafanzüge ordentlich gefaltet am Fußende. Er war immer zu ungeschickt dafür gewesen.
Im Arbeitszimmer setzte er sich an den Tisch, öffnete die Schublade mit dem Briefpapier und schrieb: 15.10.2023, 13:42 Uhr.
Er schüttelte den Kopf. Legte Papier und Stift wieder an ihren Platz, schon den Stuhl an den Tisch und ging hinaus. Im Garten warf er den Beutel mit dem Fleisch in die Tonne und stellte sie auf die Straße. Einen Tag zu früh. Das ließ sich nun nicht ändern.
Im Schuppen fand er ein Springseil der Enkel.
Er band die Schlinge mit festem Knoten. Nahm Leiter und Seil mit zum Apfelbaum.
Gewissenhaft befestigte er das Seil an einem der Äste. Legte Uhr und Hörgerät ab.
Unter ihm blies der Wind ins aufgehäufte Laub.
In der Ferne läutete es zwei Uhr.
Er hörte es nicht.

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