Lovebox

Der rote Schal hängt noch immer an der Garderobe.
Er fängt meinen Blick, sobald ich die Wohnungstür öffne.
In mir viele Emotionen, doch weder mein leerer Bauch noch mein voller Kopf helfen mir, sie zu deuten, gar zu sortieren. Und so stehe ich einfach so auf der Schwelle, den Schlüssel in der Hand. Starre auf den Schal. Sehe Rot.
Vielleicht ist es doch noch zu früh, um hergekommen zu sein oder zumindest, um allein hergekommen zu sein. Meine Schwester Dana, ach alle haben mir beteuert, mich zu begleiten, „wenn ich soweit sei“. Doch ich ertrage ihn nicht, den Ton in ihren Stimmen, viel weniger noch die Farben ihrer Blicke und am allerwenigsten die Klarheit, mit der sie auf „die Situation“ schauen. Ihre Abgeschlossenheit.
Seitdem „es…“ passiert war, bekomme ich viele Nachrichten. Mein Smartphone eine Fackel der Beistandsbekundungen. Einige rufen sogar an. Ihre Stimmen konserviert in Sprachnachrichten, die sie mir schicken, sobald ich sie wegdrücke.
Sie hätten bereits „davon…“ gehört. Von „der Sache…“.
Wie es mir ginge? Ob ich etwas brauche?
Eine Fackel im Nebel.
Was ich eigentlich höre, ist das, was sie nicht sagen. Was sie auslassen. Nicht benennen.
Und das, obwohl sie doch scheinbar allesamt so herrlich Rat wissen, allesamt für mich da sein wollen. Das wüsste ich ja. Immer für mich da sein wollen.
Dabei weiß ich gerade nicht einmal, ob ich selbst überhaupt wirklich da bin.
Je wieder sein würde.
Oder nur gewesen war.
Obwohl sie alle etwas zu sagen haben, Fragen direkt oder indirekt durch Dana an mich stellen, finden sie doch keine Worte für mich, für „das, was geschehen war…“.
Ihre Leerstellen als Echo der Leere in mir. Stumm und doch alles überlagernd.
Sodass auch sie allesamt letztlich stumm für mich sind.
Ich will sie nicht hören.
Ich kann sie nicht hören.

Immer wieder Danas Hände, die klein und fest in mich fassen. Mich an den Schultern packen, bis ich ihr Gesicht vor mir erkennen kann und für eine Weile zurückkehre.
Meist schickt sie mich dann zum Spätkauf, Chips und Schokolade besorgen. Durchschaubar, aber effektiv. Esse ich außer dieser Kioskkost sonst kaum etwas. Wenn ich zurückkehre, hat sie immer das Gästezimmer gelüftet und mein Bett gemacht. Es riecht nach etwas Gekochtem. Dana steht in der Küchentür. Eine Einladung zu ihr zu kommen.
„Darüber…“ zu reden. Oder zumindest etwas Richtiges zu essen. Ich spüre ihre Sorge, ihren Wunsch, ich möge mich einfach an den Tisch setzen. Bei mir, bei ihr sein.
Doch ich gehe direkt ins Gästezimmer. Schließe Tür, Fenster, Vorhänge, Augen, die Welt. Aus.

Im Dunkeln, hinter meinen Lidern, in mir.
Sofia.
Sofia, die zwei Weingläser befüllt. Eine Geschichte von ihrer Arbeit in der Agentur erzählt. Immer wieder lacht. Mich ansieht. Lächelt. Ein Klingeln. Der Lieferdienst.
Ich will aufstehen. Sie fasst mich am Arm, sagt: „Ach, du.“
Ich will sie küssen. Es klingelt erneut. Sie geht zur Tür.

Heute Morgen dann, als ich im Gästebett liegend versuche, den verblassenden Traum zurückzuholen. Sie zurückzuholen!
Heute Morgen also weiß ich, dass ich nun endlich in unsere Wohnung muss.
Ich endlich ihre Sachen zusammensuchen und in Kisten packen muss und…
Das wäre doch immerhin ein Schritt.
„Kleine Schritte jetzt.“, sagt Dana immer und so bin ich, zwei unmöglich zu tragende Umzugskartons bändigend, auf zu unserer Wohnung.
Der Morgen ist kühl und klar und auch ich bin es, fühle mich zumindest für einen Moment so klar wie seit dem Tag nicht mehr, an dem „es…“geschah.
Ich schüttele den Kopf im beinahe leeren Bus, um den Fokus nicht zu verlieren.
Die vorbeiziehenden Orte – Stammkneipe, Lieblingsitaliener, unser Supermarkt – ein Trailer der Vergangenheit. Ich schaue auf mein Smartphone, um nicht raussehen zu müssen. Wage es nicht, eine neue Nachricht meiner Freunde zu entdecken, weswegen der Screen schwarz bleibt und ich den Rest der Fahrt mit der finsteren Spiegelung meiner Selbst verbringen muss.
Der Bus hält.
Unsere Haltestelle. Unsere Straße. Unser Treppenhaus. Und nun stehe ich auf unserer Schwelle und ihr roter Schal hängt dort an der Garderobe und ich in der Luft dazwischen.
Es ist, als sähe ich das erste Mal seit Wochen wieder etwas und erinnerte mich nicht nur, wobei die Erinnerungen natürlich sofort kommen.
Sofia und ich auf diesem schrecklichen Flohmarkt. Sofia, den Schal bereits um den Hals geschlungen, bevor irgendjemand auch nur ahnen konnte, dass sie ihn nicht schon vor zehn Sekunden getragen hatte. Ihr Gewinnerinnenlächeln. Ihr selbstverständlicher Gang zum Verkäufer, um über ein vollkommen anderes Teil zu verhandeln. Sie liebte den Nervenkitzel. „Ein bisschen Pfeffer im Alltag.“, wie sie immer sagte.
Irgendwo im Treppenhaus über mir schreit ein Kind. Schritte.
Schnell trete ich ein, schließe die Tür, fühle mich ertappt und weiß gar nicht, wobei.
Kalter Schweiß. Ich friere.
Noch im Flur vollbringen meine Hände das unmöglich Kunststück zumindest einen der Umzugskartons aufzufalten, der jetzt wie eine natürliche Barriere zwischen mir und dem Rest der Wohnung steht.
Ich steige hinein, stehe einen Augenblick im Karton. Ein Raum im Raum. Überschaubar.
Ich atme tief durch, steige hinaus und betrete die Wohnung.
„Lovebox“, hatte Sofia unsere 1,5 Zimmer immer genannt. Wohn- und Arbeitsbereich mit Kochnische, Duschbad, Schlafkammer ohne Fenster.
Genau in der Mitte des Allesraumes bleibe ich stehen. Ballen auf dem alte Perserteppich. Versen auf den stets knarrenden Dielen.
Mir ist, als stünde der Raum um mich. Alles Requisite. Das grüne Kordsofa, der noch immer behangene Wäscheständer, die Fotos an der Wand, halbleere Weingläser auf der kleinen Küchenarbeitsfläche. Bühne eines Stücks ohne Dernière und doch war es vorbei, abgesetzt. Entrissen.
Erneut schüttele ich meinen Kopf. Versuche meinen Blick zu fokussieren und die Erinnerungen fernzuhalten, die wie Geister durch den Raum gleiten.
Sofia auf der Couch, eine Klatschzeitung in der Hand. Immer wieder selbstironisch auflachend und doch ganz gebannt. Sofia im Yogaoutfit aus dem herabschauenden Hund aufspringend, als eines ihrer Räucherstäbchen den Teppich versengt.
Sofia auf dem Küchentisch sitzend, der Blick zum Innenhof. In Gedanken versunken.
Immer kauend.
Sofia.
Mein Blick, diesem letzten Geist folgend, fällt auf ihre Chilipflanze, die halb vertrocknet auf dem Fensterbrett nahe dem Küchentisch steht.
Ich hatte sie immer für verrückt erklärt, wenn sie beim Nachdenken eine dieser teuflischen Schoten beinahe zärtlich zerkaute und ohne Milch oder wenigstens Wasser hinunterschluckte.
Wie in Trance setze ich mich auf den kleinen Tisch, pflücke eine der Schoten vom Strauch und stecke sie mir in den Mund.
Erster Biss: Ich höre die Schote knacken, spüre die kühle Glätte ihrer Schale, die feinen Kerne auf meiner Zunge.
Zweiter Biss: Mein Gaumen kribbelt. Mein Speichel fließt.
Dritter Biss: Mein Mund fängt Feuer. Meine Zunge sucht nach der kühlenden Schale, verbrennt sich an sich selbst.
Vierter, fünfter, sechster Biss.
Lava.
Ich schlucke Feuer. Es gleitet meinen Rachen hinab. In die Tiefe.
Ich reiße die nächste Schote vom Strauch.
Dann noch eine.
Und noch eine.
Ich kaue und kaue, pflücke und kaue, pflücke, pflücke und kaue.
Mir gehen die Augen über, dann gehe ich über mich selbst.
Meine Tränen. Magmaströme aus dem tiefst verborgenen Kern.
Alles ist eins. Keine Gedanken. Keine Gefühle.
Namenlose Strömung.

Urknall!

Als ich versiegt bin, wende ich meinen Blick.
Unsere Wohnung vor mir.
Ich bin im Raum und sehe scharf.
Die halbleeren Weingläser. Ich schütte sie aus und spüle sie.
Ich hole die Umzugskartons und stelle sie in die Küche.
Kleine Schritte.
Noch im Flur schreibe ich Dana. Morgen werden wir wiederkommen.
Ich nehme den roten Schal von der Garderobe. Lege ihn um.
Mir ist warm.

Zurück
Zurück

Takt